4A_524/2015: Qualifikation der Ersatzvornahme gemäss Art. 98 OR (amtl. Publ.)

Der Beschw­erde­führer ersuchte um Ermäch­ti­gung zur Ersatzvor­nahme betr­e­f­fend die Behe­bung von Schä­den auf seinem Grund­stück. Er berief sich dabei auf Zusicherun­gen der Beschw­erdegeg­ner­in, welche diese anlässlich von Besich­ti­gun­gen abgegeben haben soll. Aus diesen Zusicherun­gen leit­ete der Beschw­erde­führer einen Erfül­lungsanspruch ab und stützte sich für dessen Gel­tend­machung auf Art. 98 Abs. 1 OR ab.

Die kan­tonalen Instanzen trat­en auf die Klage nicht ein. Zur Begrün­dung führten sie unter Hin­weis auf Art. 250 lit. a Ziff. 4 ZPO aus, der gel­tend gemachte Anspruch des Klägers sei im sum­marischen und nicht im ordentlichen Ver­fahren zu behan­deln (E. 3).

Das Bun­des­gericht kon­nte sich in diesem Urteil erst­mals zur Qual­i­fika­tion der Ersatzvor­nahme gemäss Art. 98 OR äussern. Es wies ins­beson­dere darauf hin, dass ent­ge­gen der Auf­fas­sung in der Lehre sich aus BGE 130 III 302 klare Stel­lung­nahme zu dieser Frage ent­nehmen lasse.

In der Lehre wer­den zwei The­o­rien vertreten: Nach der Voll­streck­ungs­the­o­rie han­delt es sich bei der Ermäch­ti­gung zur Ersatzvor­nahme um eine prozess­rechtliche Voll­streck­ungsregel, welche ein recht­skräftiges Leis­tung­surteil gegen den Schuld­ner voraus­set­zt. Demge­genüber sind die Vertreter der Erfül­lungs­the­o­rie der Ansicht, dass Art. 98 OR eine materiell­rechtliche Erfül­lungsregel darstellt, weshalb sich ein Gläu­biger auch ohne Leis­tung­surteil zur Ersatzvor­nahme ermächti­gen lassen kann, sofern er rechtswirk­sam auf das Erbrin­gen der Leis­tung durch den Schuld­ner sel­ber verzichtet hat (E. 4.1). Diese Kon­tro­verse ist — so das Bun­des­gericht einem Teil der Lehre (E. 4.2) ent­geg­nend — auch nach dem Inkraft­treten der schweiz­erischen ZPO von Bedeu­tung (E. 4.3).

Das Bun­des­gericht wies zunächst unter Bezug­nahme auf die Botschaft darauf hin, dass mit der ZPO das materielle Zivil­recht soweit als möglich von prozess­rechtlichen Regeln  hätte ent­lastet wer­den sollen. Da Art. 98 OR unverän­dert blieb, spreche dies eher für die Erfül­lungs­the­o­rie. Allerd­ings ergebe sich — so das Bun­des­gericht — aus der Beratung kein Hin­weis darauf, dass dem Geset­zge­ber diese Frage bewusst gewe­sen wäre (E. 4.4.1).

Das Bun­des­gericht ver­wies vielmehr auf Art. 250 lit. a Ziff. 4 ZPO, wonach die Ermäch­ti­gung zur Ersatzvor­nahme gemäss Art. 98 OR im sum­marischen Ver­fahren erfol­gt. Da im sum­marischen Ver­fahren nur beschränk­te Beweis­mit­tel zuge­lassen sind, eigne sich dieses Ver­fahren — so das Bun­des­gericht — nicht, um vor­frageweise die materiell­rechtliche Verpflich­tung zu klären. Vielmehr könne nur die Ermäch­ti­gung zur Ersatzvor­nahme als Voll­streck­ungs­mass­nahme gemeint sein, nach­dem die Leis­tungspflicht bere­its beurteilt wor­den sei (E. 4.4.1).

Auch aus dem sys­tem­a­tis­chen Zusam­men­hang zu Art. 366 Abs. 2 OR, ein­er Spezial­regel zu Art. 98 Abs. 1 OR, könne gemäss Bun­des­gericht nichts anderes abgeleit­et wer­den. Zwar betr­e­f­fen bei­de Bes­tim­mungen die Ersatzvor­nahme bei Leis­tun­gen zu einem Tun; im Unter­schied zu Art. 98 OR set­zt Art. 366 Abs. 2 OR aber keine Ermäch­ti­gung des Gerichts voraus, um zur Ersatzvor­nahme zu schre­it­en. Zudem ver­langt Art. 366 Abs. 2 OR — im Gegen­satz zu Art. 98 Abs. 1 OR — aus­drück­lich das Anset­zen ein­er angemesse­nen Frist mit der Andro­hung, son­st zur Ersatzvor­nahme zu schre­it­en. Das Bun­des­gericht überzeugte die Auf­fas­sung der Vertreter der Voll­streck­ungs­the­o­rie, wonach aus dem Fehlen dieser Voraus­set­zun­gen abgeleit­et wer­den müsse, dass Art. 98 Abs. 1 OR keinen unmit­tel­baren Erfül­lungsanspruch auf Ersatzvor­nahme gewähren wolle. Selb­st Vertreter der Erfül­lungs­the­o­rie wür­den davon aus­ge­hen, dass ein Schuld­ner, sofern die Zeit der Erfül­lung wed­er durch Ver­trag noch durch die Natur des Rechtsver­hält­niss­es bes­timmt sei, erst dann um seine Leis­tungspflicht wisse, wenn er zur Leis­tung aufge­fordert wurde (E. 4.4.2).

Zusam­menge­fasst kam das Bun­des­gericht deshalb zum Schluss, dass Art. 98 Abs. 1 OR keinen selb­ständi­gen Erfül­lungsanspruch bein­hal­tet, son­dern im Sinne der Voll­streck­ungs­the­o­rie zu qual­i­fizieren ist (E. 4.5):

Aus Art. 98 Abs. 1 OR kann der Beschw­erde­führer somit keinen Anspruch ableit­en, direkt auf Ersatzvor­nahme — unter vor­frageweis­er Prü­fung der Leis­tungspflicht der Beschw­erdegeg­ner­in — zu klagen.

Und weit­er (E. 5):

Der Beschw­erde­führer hätte entwed­er zuerst im ordentlichen Ver­fahren ein Leis­tungs­begehren stellen müssen und, nach­dem das Urteil vor­lag, in einem zweit­en Schritt gestützt auf Art. 98 OR nach Art. 250 lit. a Ziff. 4 ZPO die Ersatzvor­nahme ver­lan­gen. Oder er hätte gle­ichzeit­ig mit dem Leis­tungs­begehren gestützt auf Art. 236 Abs. 3 ZPO für den Fall des Obsiegens ein Begehren um direk­te Voll­streck­ung durch Ersatzvor­nahme (Art. 343 Abs. 1 lit. e ZPO) stellen können. 

Da der Beschw­erde­führer bewusst keine dieser in der ZPO vorge­se­henen Vari­anten gewählt hat­te, schützte das Bun­des­gericht im Ergeb­nis den Nichtein­tretensentscheid der Vorinstanz.