4A_589/2011: Swatch/Ice-Watch — Feststellungsinteresse; Prozessführungsverbote; Wirkung einer ungerechtfertigten ausserordentlichen Kündigung einer Abgrenzungsvereinbarung (amtl. Publ.)

Nach­dem die bel­gis­che Uhren­her­stel­lerin TKS SA die Wort­marke “ICEWATCH” in Klasse 14 angemeldet hat­te, hat­te Swatch AG Wider­spruch gegen die Ein­tra­gung erhoben. In der Folge hat­ten sich die Parteien in ein­er Abgren­zungsvere­in­barung darüber ver­ständigt, dass TKS die Wort­marke weltweit stets nur auf zwei Zeilen “ICE / WATCH” oder — bei Pro­duk­tbeschrei­bun­gen — mit Binde­strich “ICE-WATCH” darstelle. Im Gegen­zug zog Swatch den Wider­spruch zurück.

Im Juni 2009 kündigte Swatch die Abgren­zungsvere­in­barung nach mehreren Ver­stössen frist­los und ohne Abmah­nung. Sei­ther sind diverse Wider­sprüche erfol­gt. TKS klagte darauf vor dem HGer BE gegen Swatch AG und stellte vier Rechtsbegehren:

  • Fest­stel­lung, dass die Kündi­gung wirkungs­los sei;
  • Fest­stel­lung, dass die Abgren­zungsvere­in­barung gültig sei;
  • Ver­bot bes­tim­mer weit­er­er Widersprüche;
  • Befehl zum Rück­zug bes­timmter Widersprüche 

Das HGer BE hiess die Klage weit­ge­hend gut. Das BGer weist die Beschw­erde von Swatch gegen dieser Urteil weit­ge­hend ab, mit Aus­nahme aber ein­er in einem Punkt falschen Ver­tragsausle­gung des HGer, was zur Rück­weisung der Sache an das HGer BE führt.

1. Fest­stel­lungs­begehren / ‑inter­esse

Ein Fest­stel­lungsin­ter­esse ist ein erhe­blich­es und schutzwürdi­ges Inter­esse rechtlich­er oder tat­säch­lich­er Natur an der sofor­ti­gen Fest­stel­lung des Bestands oder Nichtbe­stands eines Rechts oder Rechtsver­hält­niss­es. Das lag hier (vor BGer) unbe­strit­ten vor, weil TKS wegen der Ungewis­sheit über die Gültigkeit der Abgren­zungsvere­in­barung nicht wusste, ob sie ihre Marke zuläs­sig Weise ver­wende und an dieser fes­thal­ten solle. Sie brauche auch für kün­ftige zivil­rechtliche Stre­it­igkeit­en Klarheit über das Ver­hält­bis zwis­chen den kol­li­dieren­den Marken. Die Fort­dauer der Ungewis­sheit war damit unzu­mut­bar und durch Fest­stel­lung­surteil behebbar.

Unbe­strit­ten — vor BGer — war fern­er die Erwä­gung, eine an sich zuläs­sige Leis­tungsklage sei vor­liegend nicht aus­re­ichend, weil der Bestand der Abgren­zungsvere­in­barung recht­skräftig im Dis­pos­i­tiv und nicht nur in den Erwä­gun­gen beurteilt wer­den müsse. Das BGer bestätigt diese Erwä­gung den­noch aus­drück­lich und unter Hin­weis auf BGE 121 III 474 E. 4a.

Schliesslich war ein Fest­stel­lungsin­ter­esse auch nicht durch verzögertes Han­deln ent­fall­en (maW: durch ein gewiss­es Zuwarten wurde die Fort­dauer der Ungewis­sheit hier nicht zumutbar). 

Zulet­zt hält das BGer fest, dass der Bestand eines Kündi­gungsrechts den Bestand oder Nichtbe­stand eines Rechts betr­e­ffe und daher grund­sät­zlich Gegen­stand ein­er Fest­stel­lungsklage sein kann.

2. Ver­pönte anti-suit injunc­tions? Frage (halb) offengelassen

Swatch AG hat­te vor BGer fern­er vorge­bracht, mit Rechts­begehren 3 und 4 (Ver­bot neuer Wider­sprüche und Befehl zum Rück­zug beste­hen­der) han­dle es sich um Prozess­führungsver­bote (“anti-suit injunc­tions”), mit denen auf  unzuläs­sige Weise in die Kom­pe­tenz des Ziel­gerichts einge­grif­f­en werde. Das BGer schnei­det die Zuläs­sigkeit von Prozess­führungsver­boten nur (aber immer­hin) an. Im Bere­ich des LugÜ (bzw. EuGVÜ) hat der EuGH mit Urteil iS Turn­er c. Grovit Prozess­führungsver­bote als unzuläs­sig erachtet. Das ist für die Schweiz im Anwen­dungs­bere­ich des LugÜ verbindlich, aber ausser­halb des LugÜ ist, so das BGer, die Frage offen. Die schweiz­erische Lehre ste­he Prozess­führungsver­boten aber über­wiegend ablehnend gegenüber. Nach­dem das BGer die dafür ange­führten Argu­mente darstellt, hält es jedoch fest, die Frage könne offen­ge­lassen wer­den:

Vor­liegend gehe es gar nicht um Prozess­führungsver­bote, son­dern um die ver­tragliche, also materiell­rechtliche Dul­dungs- bzw. Unter­las­sungsverpflich­tung in der Abgren­zungsvere­in­barung. Es gehe ins­beson­dere wed­er um um eine Zuständigkeit­sregelung (das wäre allen­falls ein Prozess­führungsver­bot) noch um einen Ver­gle­ich, in dem sich die Parteien verpflicht­en, über den Stre­it­ge­gen­stand nicht mehr zu prozessieren (auch das wäre wohl auch ein Prozess­führungsver­bot) — vor­liegend gehe es um wesentlich mehr, näm­lich um einen generellen Verzicht der Swatch AG auf die Gel­tend­machung ihrer Pri­or­ität­srechte, ausser­halb eines bes­timmten Ver­fahrens. Das falle nicht unter den Begriff des Prozessführungsverbots.

Abschliessend hält das BGer fest, dass eine Qual­i­fika­tion der erlasse­nen Anord­nun­gen als (unzuläs­sige) anti-suit injunc­tions dazu führen würde, dass TKS die Durch­set­zung der Abgren­zungsvere­in­barung verun­möglicht würde — diese Befürch­tung lässt sich wohl als weit­er­er Hin­weis auf Zweifel an der Zuläs­sigkeit der Prozess­führungsver­bote auch ausser­halb des LugÜ deuten.

3. Kündi­gung von Abgrenzungsvereinbarungen

Das BGer geht davon aus, dass Abgren­zungsvere­in­barun­gen grund­sät­zlich unkünd­bar sein müssen, weil sie das Wieder­auf­flam­men des Kon­flik­ts anders nicht ver­hin­dern können:

Unab­hängig davon ist eine Abgren­zungsvere­in­barung, wie bere­its dargelegt wurde (Erwä­gung 6 vorne), ihrem Wesen nach unkünd­bar, andern­falls sie ihren Zweck ein­er endgülti­gen und dauern­den Bei­le­gung eines beste­hen­den oder zumin­d­est nicht auszuschliessenden Kon­flik­ts nicht erre­ichen kön­nte. Dies entspricht der ein­hel­li­gen Lehre und wird namentlich auch unter dem Gesichtswinkel ein­er über­mäs­si­gen Bindung im Sinne von Art. 27 ZGB als unprob­lema­tisch betrachtet.

(Auch der über einen Ver­gle­ich hin­aus­ge­hende Regelung des zukün­fti­gen Gebrauch des jün­geren Kennze­ichens könne im Übri­gen nicht als künd­bar­er Lizen­zver­trag qual­i­fiziert werden.)

Den­noch sind auch Abgren­zungsvere­in­barun­gen aus wichti­gen Grün­den ausseror­dentlich kündbar.

Das HGer BE hat­te im konkreten Fall ein Kündi­gungsrecht aber verneint, weil Swatch AG der TKS nicht zuvor Frist zur Behe­bung des ver­tragswidri­gen Zus­tands iSv OR 107 ange­set­zt hat­te. Das ist bun­desrechtswidrig, wie das BGer festhält:

Ent­ge­gen der Ansicht der Vorin­stanz, welche die Beschw­erde­führerin zu Recht rügt, darf das Recht auf Kündi­gung bei Vor­liegen eines wichti­gen Grun­des nicht von der weit­eren Voraus­set­zung abhängig gemacht wer­den, dass die kündi­gende Partei zuvor eine Frist zur Behe­bung des ver­tragswidri­gen Zus­tands bzw. zur Ver­tragser­fül­lung im Sinne von Art. 107 OR anset­zt. Bei Vor­liegen eines wichti­gen Grun­des beste­ht die Möglichkeit zu ein­er sofor­ti­gen Ver­tragsauflö­sung vielmehr unab­hängig von einem — im vor­liegen­den Fall nicht erfol­gten — Vorge­hen nach Art. 107 ff. OR, und nicht bloss als sub­sidiäre Möglichkeit, wie die Vorin­stanz zu Unrecht angenom­men hat.

Das heisst nicht, dass Abmah­nun­gen hier bedeu­tungs­los wären; im Gegen­teil kön­nen auch weniger schw­er­wiegende Umstände eine Fort­set­zung des Ver­trags unzu­mut­bar machen kön­nen, wenn sie trotz Abmah­nung wieder­holt  vorkommen.

Das HGer BE hat­te die von Swatch AG ange­führten Ver­tragsver­let­zun­gen daraufhin geprüft, ob diese eine ausseror­dentliche Kündi­gung recht­fer­ti­gen, und dies verneint. Hier hat­te Swatch AG Erfolg. In einem Punkt hat­te die Vorin­stanz die Vere­in­barung falsch aus­gelegt und eine Ver­tragsver­let­zung zu Unrecht ver­wor­fen (die Erlaub­nis, den Domain­na­men www.ice-watch.com zu gebrauchen und zu erwäh­nen, umfasst bei richtigem Ver­ständ­nis nicht den marken­mäs­si­gen Gebrauch des Domainnamens).

Weil ein Kündi­gungsrecht sich aus anderen Grün­den nicht klar ergibt und deshalb alles auf diese zu Unrecht mis­sachtete Ver­let­zung ankommt, weist das BGer die Sache an das HGer zurück.

4. Kon­klu­dente Annahme ein­er Kündi­gung (OR 115)

Ins­beson­dere war die Kündi­gung nicht stillschweigend akzep­tiert wor­den, auch nicht durch ein­monatiges Schweigen nach Erhalt des Kündi­gungss­chreibens. Die Regel, dass ein Schuld­ner bei zu kurz bemessen­er Nach­frist iSv OR 107 I unverzüglich protestieren muss, ist auf eine Kündi­gung nicht ana­log anwend­bar. Im Gegen­teil ist für das Zus­tandekom­men eines (kon­klu­den­ten) Aufhe­bungsver­trags iSv OR 115 erforder­lich, dass ein Ver­hal­ten nach der all­ge­meinen Lebenser­fahrung und Verkehrsan­schau­ung den Schluss auf einen Verzichtswillen begrün­det erscheinen lässt, d.h. dass der Wille auf einen endgülti­gen Verzicht klar zum Aus­druck kommt. Das war hier nicht der Fall:

Ger­ade wenn der Beschw­erdegeg­ner­in viel am Fortbe­stand der Abgren­zungsvere­in­barung gele­gen war, ist es zumin­d­est nachvol­lziehbar, dass sie auf die aus­ge­sproch­ene Kündi­gung nicht unverzüglich reagierte, son­dern sich ihr Vorge­hen nach den in einem solchen Fall erforder­lichen Abklärun­gen rei­flich über­legte und die Sache einem Anwalt anvertraute.



5. Wirk­samkeit ein­er unberechtigten Kündigung

Nicht ganz gek­lärt ist die Frage der Wirkung ein­er unberechtigten Kündi­gung. In BGE 133 III 360 hat das BGer für einen Lizen­zver­trag fest­ge­hal­ten, eine vorzeit­ige Kündi­gung wirke nur dann — mit Aus­nahme von geset­zlich geregel­ten Fällen -, wenn sie gerecht­fer­tigt sei; andern­falls bleiben die ver­traglichen Verpflich­tun­gen beste­hen. Das BGer lässt offen, welch­es die Trag­weite dieses Urteils (das von Kull SJZ 2011, 245 ff., kri­tisiert wurde) sei. Zumin­d­est in Vere­in­barun­gen, die im Wesentlichen gegen­seit­ige Dul­dungs- und Unter­las­sungspflicht­en vorse­hen, müsse von der grund­sät­zlichen Wirkungslosigkeit ein­er unberechtigten Kündi­gung aus­ge­gan­gen werden:

Es erübrigt sich im vor­liegen­den Fall allerd­ings, auf die entsprechende, stark auf Ver­trieb­sverträge aus­gerichtete und insoweit hier nicht ein­schlägige Argu­men­ta­tion von KULL näher einzuge­hen. Denn in casu — wie in BGE 133 III 360 — liegt kein Ver­tragsver­hält­nis vor, in dem sich eine Vielzahl von pos­i­tiv­en Leis­tungspflicht­en gegenüber­ste­hen, deren fak­tis­che Durch­set­zbarkeit bei gestörtem Ver­trauensver­hält­nis fraglich erscheinen kön­nte. Vielmehr beschränken sich die Ver­tragspflicht­en […] im Wesentlichen auf gegen­seit­ige Dul­dungs- und Unter­las­sungspflicht­en. Selb­st KULL […] lehnt denn auch für einen solchen Fall einen Ver­trags­fortbe­stand nach ein­er ungerecht­fer­tigten Kündi­gung bzw. bis zur defin­i­tiv­en richter­lichen Beurteilung der Kündi­gung nicht ab […]. Auch im vor­liegen­den Fall ist nicht erkennbar und wird von der Beschw­erde­führerin nicht dar­ge­tan, aus welchen Grün­den deren Inter­esse, sich wegen eines allen­falls gestörten Ver­trauensver­hält­niss­es nicht real an ihre Unter­las­sungspflicht­en aus der Abgren­zungsvere­in­barung hal­ten zu müssen, gegenüber dem aus dem Grund­satz “pacta sunt ser­van­da” fliessenden Anspruch der Beschw­erdegeg­ner­in auf Real­er­fül­lung der ver­traglichen Unter­las­sungspflicht­en der Vorzug gegeben wer­den sollte […]. Die “Rechtssicher­heit” ver­langt im vor­liegen­den Fall vielmehr, dass sich die Beschw­erde­führerin nicht durch eine ungerecht­fer­tigte Kündi­gung von ihrer Dauerverpflich­tung lösen kann […].