4A_704/2011: Zustellungsfiktion nach Abholfrist von sieben Tagen, auch wenn sich der Postbote verrechnet hat; anwaltliche Überprüfungspflicht

Im vor­liegen­den Fall war dem Beschw­erde­führer ein Urteil des Kreis­gerichts St. Gallen am 18. Mai 2011 avisiert wor­den. Als Abhol­frist war der 26. Mai 2011 angegeben wor­den, also eine Abhol­frist von acht Tagen. Offen­bar hat­te sich der Post­bote ver­rech­net. Falls den­noch die jet­zt geset­zliche Frist von sieben Tagen (ZPO 138 III a; vgl. auch BGG 44 II) galt, so endete die Beru­fungs­frist am 24. Juni 2011 — einem Fre­itag. Bei acht­tätiger Frist endete sie am 27. Juni 2011, dem fol­gen­den Mon­tag (ZPO 142 III).

Das BGer hält zusam­menge­fasst fest, der Post­bote sei zwar zuständig zur Fes­tle­gung der Abhol­frist, aber nicht des Laufs der Rechtsmit­tel­frist. Nur eine anwaltlich nicht vertretene Partei kön­nte sich darauf berufen, der Fehler der Post und fol­glich das Auseinan­der­fall­en von Abhol­frist und Zustel­lungs­fik­tion sei nicht erkennbar gewe­sen, weshalb ihr Ver­trauen zu schützen sei. Ein Anwalt dage­gen hätte bloss ZPO 138 zu kon­sul­tieren brauchen, um dem Beginn des Fris­ten­laufs zu erken­nen. Den Anwalt trifft aber auch die Pflicht, die von der Post beze­ich­nete Abhol­frist zu prüfen.

Der Beschw­erde­führer begrün­dete die Gel­tung der verse­hentlich angegebe­nen acht­tägi­gen Frist damit, dass der Post­bote bzw. die Post Erfül­lungs­ge­hil­fe des Gerichts und der Fehler damit dem Gericht zuzurech­nen sei. Das BGer weist diese Auf­fas­sung zurück, ähn­lich wie in BGE 127 I 31 eine Ver­längerung der Abhol­frist, wenn die Post von sich aus eine län­gere Abhol­frist gewährt hat:

Auch wenn der Post­bote auf der Abhol­ung­sein­ladung verse­hentlich eine andere als die sieben­tägige Frist notiert, ändert dies grund­sät­zlich nichts am Zeit­punkt des Ein­tritts der Zustell­fik­tion. Denn dieser bedarf ein­er klaren, ein­fachen und ein­heitlichen Regelung. Es ist deshalb nicht über­spitzt for­mal­is­tisch, die Zustel­lungs­fik­tion unab­hängig von der postal­is­chen Abhol­frist ein­treten zu lassen, auch wenn diese ohne Ver­an­las­sung durch den Empfänger von der Post spon­tan oder irrtüm­lich ver­längert wird (BGE 127 I 31 E. 2b S. 34 f. mit Hin­weis; vgl. auch Botschaft des Bun­desrates vom 28. Feb­ru­ar 2001 zur Total­re­vi­sion der Bun­desrecht­spflege, BBl 2001 4297).

Schwieriger zu beurteilen war das Argu­ment des aus BV 9 abegeleit­eten Schutzes des Ver­trauens in behördliche Zusicherun­gen. Das BGer weist das im Ergeb­nis aber zurück:

Denn der Post­bote, der den Zustel­lungsver­such untern­immt, ist nur zur Angabe der Abhol­ungs­frist, nicht aber zur Zusicherung von Rechtsmit­tel­fris­ten zuständig, die nach dem vorste­hend Aus­ge­führten unab­hängig von der Abhol­ungs­frist zu laufen beginnen. 

So ein­fach war die Sache aber nicht. Das BGer schützt das Ver­trauen des Zustel­lungsempfängers im Grund­satz näm­lich, wenn

das Auseinan­derk­laf­fen des Datums der Zustel­lungs­fik­tion ein­er­seits und des let­zten Tages der Abhol­frist ander­er­seits für den Zustel­lungsempfänger nach dem auf der Abhol­ung­sein­ladung ver­merk­ten Datum des ersten erfol­glosen Zustel­lungsver­suchs tat­säch­lich nicht klar erkennbar war (BGE 127 I 31 E. 3 S. 35 ff.).

Später rel­a­tivierte das Bun­des­gericht diese Prax­is. Ist der Empfänger nicht anwaltlich vertreten, beste­he die Gefahr, dass die Partei

den tat­säch­lichen Emp­fang der Sendung nach dem siebten Tag seit dem erfol­glosen Zustel­lungsver­such als das die Rechtsmit­tel­frist aus­lösende Ereig­nis betra­chte; in einem solchen Fall müsse sich die Behörde die Hand­lun­gen der Post, die sie bei der Zustel­lung als Hil­f­sper­son zuzieht, grund­sät­zlich anrech­nen lassen und dürfe der Empfänger auf diese ver­trauen (Urteil 1C_85/2010 vom 4. Juni 2010 E. 1.4). 

Im gle­ichen Urteil (1C_85/2010) hat­te das BGer festgehalten,

[s]o wie aus ein­er unrichti­gen Rechtsmit­tel­belehrung den Parteien keine Nachteile erwach­sen dür­fen (Art. 49 BGG), darf ein­er Partei durch falsche Angaben der Hil­f­sper­son, der sich die Behörde bedi­ent, kein Nachteil erwach­sen, es sei denn, der Fehler sei offenkundig bzw. für die Partei erkennbar […]. 

Später habe es diese Frage allerd­ings offen­ge­lassen, wie das BGer jet­zt betont (Urteil 2D_37/2010 vom 23. Novem­ber 2010 E. 3.3). Ob das BGer damit andeuten will, auf diese Prax­is zurück­kom­men zu wollen, ist aber nicht klar. Hier stellte sich diese Frage näm­lich nicht, weil der Beschw­erde­führer anwaltlich vertreten war. Der Anwalt hätte “durch blosse Kon­sul­ta­tion der mass­ge­blichen Ver­fahrens­bes­tim­mung von Art. 138 ZPO” erken­nen kön­nen, dass die Sendung am siebten Tag als zugestellt galt und nicht erst am let­zten Tag der angegebe­nen Abholungsfrist.

Den Ein­wand des Anwalts, es käme “auf­grund des gesun­den Men­schen­ver­standes nie­man­dem in den Sinn zu kon­trol­lieren, ob der Zustell­beamte den Abholzettel richtig aus­ge­füllt hat”, weist das BGer zurück, vor allem in einem Fall wie dem vor­liegen­den, in dem die Abhol­ungs­frist bis zum let­zten Tag aus­geschöpft wurde. Der Beschw­erde­führer darf sich deshalb von vorn­here­in nicht auf den Ver­trauenss­chutz berufen.