6B_913/2009: Privatstrafverfahren; rechtsmissbräuchlicher Strafantrag

Das Bun­des­gericht hat eine Beschw­erde gut­ge­heis­sen (Urteil 6B_913/2009 vom 18. März 2010), die sich gegen die Ein­stel­lung eines Pri­vat­strafver­fahrens richtete. Die Vorin­stanz hat­te das Ver­fahren, das wegen Wider­hand­lung gegen ein all­ge­meines richter­lich­es Ver­bot durch unberechtigtes Betreten eines Grund­stücks ein­geleit­et wor­den war, mit der Begrün­dung eingestellt, der Strafantrag sei rechtsmissbräuchlich.

Der Pri­vat­strafk­läger und Grund­stück­seigen­tümer hat­te eine Ver­bot­stafel auf­stellen lassen. Der Beschw­erdegeg­n­er betrat das durch dieses all­ge­meine Ver­bot geschützte Grund­stück mehrmals täglich ohne Berech­ti­gung. Zu prüfen war, ob er dadurch gegen § 313 Abs. 2 ZPO/AG ver­stossen hat. Nach diesem kan­tonalen Übertre­tungstatbe­stand (vgl. Art. 335 StGB) wird, wer einem Ver­bot nach § 309 ZPO/AG, das sich gegen einen unbes­timmten Kreis von Per­so­n­en richtet, zuwider­han­delt, ohne ein besseres Recht nach­weisen zu kön­nen, auf Antrag mit Busse bestraft (in der vor dem 1. Jan­u­ar 2009 gel­tenden Fas­sung der Bes­tim­mung war zudem Haft angedroht). 

Das Bun­des­gericht ver­warf das Urteil der Vorin­stanz, die den Strafantrag des Beschw­erde­führers als miss­bräuch­lich und ungültig ansah:

4.2 Der Strafantrag war im vor­liegen­den Fall ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Vorin­stanz nicht offen­bar rechtsmiss­bräuch­lich. Der Beschw­erde­führer gab nicht selb­st durch rechtswidriges Ver­hal­ten zur eingeklagten Tat unmit­tel­bar Anlass. Auch liegt keine der anderen Kon­stel­la­tio­nen — oder eine damit ver­gle­ich­bare Sit­u­a­tion — vor, in denen Rechtsmiss­brauch angenom­men wer­den kann […]. Der Beschw­erde­führer ist als Grund­stück­eigen­tümer frei in sein­er Entschei­dung, gegen welche Per­so­n­en er wegen Zuwider­hand­lung gegen das von ihm erwirk­te all­ge­meine Ver­bot Strafantrag ein­re­icht. Daran ändert ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Vorin­stanz nichts, dass sich das all­ge­meine Ver­bot gegen jed­er­mann richtet. Der Beschw­erde­führer kon­nte nach Belieben und ohne Angabe sein­er Beweg­gründe Strafantrag gegen den Beschw­erdegeg­n­er stellen. Ent­ge­gen der Ansicht der Vorin­stanz enthält der Tatbe­stand von § 313 Abs. 2 ZPO/AG keine der­art aus­geprägten “Eigen­heit­en”, dass sich eine beson­dere Behand­lung des auf­grund dieses Tatbe­stands gestell­ten Strafantrags recht­fer­tigt. Ein­er der Zwecke des gehörig bekan­nt gemacht­en all­ge­meinen Ver­bots nach § 313 Abs. 2 ZPO/AG liegt in dessen präven­tiv­en Wirkung […]. Dieser Zweck beste­ht unab­hängig davon, ob, gegen welche und gegen wie viele Zuwider­han­del­nde der Beschw­erde­führer das all­ge­meine Ver­bot durch Ein­re­ichung von Strafanträ­gen durch­set­zt. Diese Präven­tivwirkung des all­ge­meinen Ver­bots hätte eine Klage des Beschw­erde­führers gegen den Beschw­erdegeg­n­er wegen Besitzesstörung (Art. 928 ZGB) nicht gezeit­igt. Es beste­hen zudem Par­al­le­len zum Tatbe­stand des Haus­friedens­bruchs nach Art. 186 StGB. Auch dieser richtet sich — wie das all­ge­meine Ver­bot nach § 309 ZPO/AG — gegen jed­er­mann. Trotz­dem kann der Berechtigte gegen einzelne von vie­len Einzeltätern Strafantrag wegen Haus­friedens­bruchs stellen. Dieses Ver­hal­ten ist nicht rechtsmiss­bräuch­lich. Es ist nicht ersichtlich, weshalb das all­ge­meine Ver­bot nach § 309 ZPO/AG hin­sichtlich der Frage der rechtsmiss­bräuch­lichen Ausübung des Strafantragsrechts anders behan­delt wer­den sollte als der Tatbe­stand des Haus­friedens­bruchs. Der Beschw­erde­führer ver­wandte das all­ge­meine Ver­bot nach dem Gesagten nicht zweck­widrig. Auch liegt keine Ausübung eines mit dem Rechtsin­sti­tut des Eigen­tums verknüpften sub­jek­tiv­en Rechts vor, die über den Sinn des Rechtsin­sti­tuts hin­aus­ge­ht oder dieses infrage stellt […].

Auch die vom Beschw­erdegeg­n­er gel­tend gemacht­en Ein­wände, er sei einem Ver­bot­sir­rtum (Art. 21 StGB) unter­legen und der Grund­stück­seigen­tümer sei nicht zum Strafantrag berechtigt, ver­warf das Bundesgericht:

5.1 […] Nach der Recht­sprechung des Bun­des­gerichts ist ein früher­er Freis­pruch durch den zuständi­gen Richter bei gle­ichem Sachver­halt aus­re­ichend für die Beru­fung auf einen Recht­sir­rtum. Dies gilt selb­st, wenn der Staat­san­walt den Täter vor der zweit­en Tat­bege­hung aus­drück­lich darauf hin­weist, dass er selb­st und die zuständi­ge Ver­wal­tungs­be­hörde den Freis­pruch als Fehlentscheid betra­cht­en (BGE 99 IV 185 E. 3a S. 186 mit Hin­weis). Der Beschw­erdegeg­n­er kon­nte — auch vor dem Hin­ter­grund des früheren Ver­fahrens — nicht in guten Treuen davon aus­ge­hen, dass er auf­grund des Urteils des Oberg­erichts vom 7. Dezem­ber 2006 gegen das all­ge­meine Ver­bot ver­stossen dürfe. Er wurde in jen­em Urteil freige­sprochen, weil nach der Ansicht des Oberg­erichts der Beschw­erde­führer das all­ge­meine Ver­bot durch Ein­re­ichung eines Strafantrags allein gegen ihn zweck­widrig ver­wen­dete und daher der Strafantrag als rechtsmiss­bräuch­lich zu qual­i­fizieren war. Daraus fol­gt aber nicht, dass das Betreten des Grund­stücks durch den Beschw­erdegeg­n­er in Mis­sach­tung des all­ge­meinen Ver­bots recht­mäs­sig war. Zudem wurde zwis­chen­zeitlich die Ver­bot­stafel aufgestellt, wom­it das all­ge­meine Ver­bot auch allen anderen Pas­san­ten bekan­nt gemacht wurde. Schliesslich kon­nte der Beschw­erdegeg­n­er nicht wis­sen, gegen welche Per­so­n­en, die das Ver­bot mis­sachteten, der Beschw­erde­führer in der Zukun­ft Strafantrag stellen werde. Er durfte nicht darauf ver­trauen, dass auch ein allfäl­liger kün­ftiger Strafantrag des Beschw­erde­führers gegen ihn als rechtsmiss­bräuch­lich eingestuft werde.

5.2 […] Legit­imiert zur Stel­lung eines Ver­bots­ge­suchs ist der besitzende Eigen­tümer eines Grund­stücks. Wenn er das Grund­stück einem anderen zu einem beschränk­ten dinglichen oder per­sön­lichen Recht über­lassen hat, so kann er diesem gegenüber den Besitzess­chutz nicht anrufen, jedoch gegenüber einem Drit­ten, soweit auch sein mit­tel­bar­er Besitz gestört ist […]. Das all­ge­meine Ver­bot wurde von der Behörde dem Beschw­erde­führer als Grund­stück­seigen­tümer bewil­ligt. Er ist der Ver­bot­snehmer und grund­sät­zlich zum Strafantrag berechtigt.